Vom Schummeln mit Fakten: Recherche für deinen Roman
Recherche ist für jeden Roman notwendig, für manche mehr, für andere weniger. Historische Romane bilden dabei wohl die Spitze an Rechercheaufwand, aber auch wer im Bereich Science Fiction oder Krimi unterwegs ist, kann seine Umwelt schon bald mit Fachvorträgen über physikalische Gesetze langwei begeistern.
Leider bietet eine Recherche auch sehr viele Möglichkeiten der Prokrastination. Wer hat nicht schon erlebt, dass er „nur noch eben schnell“ etwas nachsehen will, bevor er weiterschreiben „kann“ – und dann hängt man stundenlang fest? Im Gastartikel von Sarah Stoffers erfährst du, wie viel Recherche notwendig ist und wie du dabei am besten vorgehst.
von Sarah Stoffers
Als ich für meinen ersten Roman recherchierte, tat ich das, um mich nicht bis auf die Knochen zu blamieren. Ich hatte Alpträume von empörten Leserbriefen, die mir all meine Fehler auflisteten – und es gibt unzählige Möglichkeiten, bei einem historischen Roman Fehler zu machen.
Heute recherchiere ich, damit meine Romane besser werden. Denn eine Recherche verschafft mir nicht nur Fakten, sondern vor allem ein Gefühl für ein Thema, verrückte Details und Ideen, auf die ich sonst nie gekommen wäre. Eine gute Recherche kann einen Roman besser machen, ganz gleich, ob er zur Jahrhundertwende spielt oder auf einem Raumschiff.
Aber zu viel Recherche kann auch dazu führen, dass du deinen Roman niemals schreibst, denn Recherche ist Arbeit. Sie kostet dich Zeit und oft genug Nerven. Sie ist nicht das, was du als Autorin eigentlich willst, nämlich einen Roman zu schreiben, der deine Leser noch weit über den letzten Satz hinaus begleitet.
Solltest du überhaupt recherchieren?
Definitiv und zwar unabhängig vom Genre. Deine Figuren werden mehr Tiefe bekommen und dein Setting wird überzeugender werden. Recherche kann Futter für die Phantasie sein. Aber es gibt fünf Regeln, die ich gerne vor meiner ersten Recherche gekannt hätte:
Regel 1: Setze dir eine Frist.
Es gibt Autoren, die recherchieren Jahre, und ich beneide sie darum, aber so viel Zeit haben die wenigsten. Ein Monat ist ein guter Anfang, manche Themen brauchen auch drei. Außerdem lässt sich diese Zeit zum Plotten nutzen, schließlich kreisen deine Gedanken eh ständig um den Stoff und die Figuren.
Erwarte nicht, nach drei Monaten ein Experte zu sein. Oder alle Bücher zu einem Thema gelesen zu haben. Das ist unmöglich, egal ob du dir drei Monate oder drei Jahre Zeit nimmst. Außer dein Thema hat die Komplexität eines Rührkuchens und selbst dann wird es eng. (Immerhin könntest du dazu auch Getreidesorten, Kulturgeschichte und geschmackliche Abwandlungen des Kuchens nachschlagen.)
Regel 2: Suche gezielt
Genau wie Hermine Granger auf der Suche nach Nicolas Flamel habe ich anfangs sehr breit recherchiert. Ich habe alles Mögliche gelesen, was irgendwie mit meinem Thema zu tun hatte. Dabei stolpert man zwangsläufig irgendwann über etwas Interessantes. Im besten Fall lässt es sich sogar im Roman verwenden. Die meiste Zeit über las ich allerdings Hintergrundinformationen, die mir zwar einen tollen Überblick verschafften, aber wenig direkten Nutzen hatten.
Überlege lieber gezielt, was für deine Figuren und deine Handlung besonders wichtig ist.
Wenn du zum Beispiel über eine römische Sklavin schreibst, musst du nicht die Reden von Cicero lesen oder Cäsars Schriften über den gallischen Krieg. Außer vielleicht, die Sklavin ist in eine politische Intrige um Cicero verwickelt. Oder wurde im gallischen Krieg gefangen genommen. Viel hilfreicher wäre das Alltagsleben in Rom und speziell das der Sklaven.
Regel 3: Wähle deine Mittel
Im Grunde sind historische Quellen, wie Reden oder Briefe, natürlich großartig. Sie können dir ein Gefühl dafür geben, wie ein Mensch eines anderen Jahrhunderts dachte und sprach. Wenn du schon eine solide Grundlage für ein Thema mitbringst, dann kannst du direkt mit der Fachliteratur einsteigen. Aber wenn du dich gerade erst an ein Thema herantastest, gibt es einfachere Wege.
Du könntest mit ein paar Artikeln anfangen, dir ein bis zwei Dokumentationen angucken und dann zum ersten Sachbuch greifen. Falls du auch auf Englisch liest, wirst du sehr viel mehr Auswahl finden, aber am Ende steht nicht alles Wissen in Büchern. (Entschuldigung, Hermine).
Die besten Recherchen sind solche, die dich vom Schreibtisch weglocken. Es ist authentischer, über Orte zu schreiben, die man tatsächlich kennt – einmal vorausgesetzt, sie existieren in dieser Dimension und auf diesem Planeten.
Es sind die Details, wie eine bestimmte Bäckerei, ein Geruch oder ein typisches Geräusch, die deine Schauplätze lebendig machen. Etwa der Geruch der Fischläden in Chinatown, New York. Oder der noch intensivere Geruch von Kuhmist auf einer Weide in Schleswig-Holstein. Wenn du also irgendeine Chance hast, deine Schauplätze zu besuchen, dann tue es.
Eine andere Möglichkeit sind Interviews.
Die meisten Menschen sind unglaublich hilfsbereit, sobald sie hören, dass du einen Roman über ein Thema schreibst, von dem sie wirklich Ahnung haben. Du könntest zum Beispiel einen Kommissar anschreiben und um ein Interview bitten, wenn du an einem Krimi sitzt. Oder den Chaos Computer Club, wenn es in dem Krimi einen Hacker gibt. Im besten Fall hast du hinterher einen Fachmann für spätere Fragen und vielleicht sogar einen Testleser für die kniffeligen Stellen.
Du schreibst High Fantasy und hast gerade keinen Waldelb zur Hand? Kein Problem, du könntest eine Probestunde im Bogenschießen machen, und einen Jäger zur Pirsch befragen. (Oder im besten Fall sogar begleiten). Es gibt kaum ein Thema, zu dem man nicht selbst ein paar Erfahrungen machen oder über das man nicht Gespräche mit Fachleuten führen kann. Das wird vielleicht nicht alle deine Frage klären, aber du bekommst einen persönlichen Einblick, was immer direkter ist, als nur darüber zu lesen.
Und dann sind die ein bis drei Monate um.
Du hast das Thema angeschnitten. Du hast Informationen gesammelt und Notizen gemacht. Und dann ist da dieser Berg von Büchern, die du noch nicht gelesen hast und all die Dinge, die du nicht weißt.
Das ist okay.
Es ist unmöglich, alles zu wissen. Außer vielleicht, du investierst erst in ein Studium oder schreibst über etwas, dass du bereits sehr gut kennst. Natürlich kannst du auch neben dem Schreiben weiterlesen, solange es dich nicht vom Schreiben abhält.
Ansonsten gilt:
Regel 4: Prüfe offene Fragen direkt
Du wirst beim Schreiben auf Fragen stoßen, die dir vorher im Leben nicht eingefallen wären. Zum Glück sind die meisten davon sehr leicht zu lösen.
Hat Metall einen Geruch? (Nein, eigentlich nicht. Aber Eisenionen reagieren mit Schweiß und das löst einen Duftstoff aus). Knirscht eine brechende Nase? (Nicht zwangsläufig, egal was die Bücher behaupten.)
Andere rauben dir den Schlaf. Du ziehst Google, Recherchegruppen auf Facebook und Fachleute zu Rate.
Im „besten“ Fall widersprechen sich die Fachleute gegenseitig und die Fachliteratur auch. Oder noch schlimmer, die Antwort passt einfach nicht zu deinem Plot. Das ist ein guter Moment, um deinen Plot in Frage zu stellen.
Sträuben sich dir bei dem Gedanken die Nackenhaare?
Mir schon. Trotzdem hilft es manchmal, eine Idee, an die man fest geglaubt hat, zu verwerfen, um eine noch bessere zu entwickeln, die dann auch der Überprüfung standhält.
Aber was, wenn dein Plot wirklich die beste Lösung ist? Oder du einfach schon zu viel geschrieben hast, um alles zu verwerfen?
Dann bleibt nur eines:
Regel 5: Trau dich zu schummeln
Das ist eine Lösung, die viel Fingerspitzengefühl verlangt. Wenn man sie zu oft benutzt, verliert sie jede Glaubwürdigkeit. Außerdem verlangt auch Schummeln eine solide Grundlage, aber manchmal darf ein Autor Fakten verfälschen. Oder sogar komplett auf den Kopf stellen. Schließlich ist ein Roman kein Geschichtsbuch oder eine naturwissenschaftliche Abhandlung.
Die wenigsten Leute glauben, dass Dan Browns Romane ein Tatsachenbericht über die Machenschaften des Vatikans sind. Und wer den historischen Hintergrund der Serie „Turn*“ googelt, wird arge Kopfschmerzen bekommen. Es kommt beim Schummeln darauf an, trotzdem glaubhaft zu bleiben, und zu wissen, was man tut.
Ein kleines Nachwort, in dem richtig gestellt wird, warum hier welche Fakten verdreht wurden, kann eine gute Lösung sein. Ebenfalls sehr hilfreich ist eine Portion Selbstironie. In Kai Meyers „Krone der Sterne*“ fliegt die Pilotin Shara ihr Raumschiff durch einen Asteroidengürtel, der den Naturgesetzen widerspricht. Als sie auf dieses Detail hingewiesen wird, lautet ihre Antwort: „Wen interessiert schon Physik?“
Und noch eine gute Nachricht zum Schluss:
Du darfst Fehler machen.
Es lässt sich nicht vermeiden, und die meisten Leute werden es nicht einmal bemerken. Ich habe durch Zufall einen Fehler in meinem historischen Roman entdeckt. Die Recherche hat den Rest der Geschichte so glaubwürdig gemacht, dass niemand auf die Idee kam, nachzuschlagen, ob in England 1907 noch Offizierspatente verkauft wurden. (Nope, das letzte wurde 1871 verscherbelt). Seitdem bin ich deutlich entspannter geworden.
Ich glaube immer noch, dass Recherche meine Romane besser macht. Sie zeigt mir neue Blickwinkel und wirft gelegentlich ein paar meiner Ideen über den Haufen.
Aber sie führte auch dazu, dass ich vom stellvertretenden Rektor durch eine englische Privatschule geführt wurde, und mit Höhenangst eine Kletterwand hinaufgestiegen bin. Und sie hält mich niemals vom Schreiben ab.
[su_divider top=“no“ style=“dashed“ size=“1″ margin=“10″]
Sarah Stoffers hat als freie Journalistin u.a. für die Hamburger Morgenpost, Prinz und Hinz&Kunzt geschrieben. Ihr Debütroman „Wainwood House – Rachels Geheimnis*“ erschien 2013 beim cbj Verlag. Im Augenblick schreibt sie an ihren ersten Fantasy-Roman, der 2018 beim Amrûn Verlag erscheint. Sie lebt in Hamburg, trägt in ihrer Freizeit falsche Elbenohren und besticht Interviewpartner mit Kuchen.
Sarah im Netz:
https://www.facebook.com/S.Stoffers
https://www.instagram.com/sarah.stoffers
[su_divider top=“no“ style=“dashed“ size=“1″ margin=“10″]
Vielen lieben Dank an Sarah für diesen Artikel!
Wie handhabst du das mit der Recherche? Hast du dich schon mal im Recherchieren verrannt und bist wegen der vielen Nachforschungen nicht zum Schreiben gekommen? Lass uns in den Kommentaren gerne an deinen Erfahrungen teilhaben!
Nicole
Wahnsinn, wie du das Schummeln mit Fakten zu einer echten Kunstform erhebst! Dein Artikel über die Recherche für Romane hat mir nicht nur wertvolle Tipps geliefert, sondern auch einen Blick hinter die Kulissen deiner schriftstellerischen Welt gewährt.
Pingback: Die Woche im Rückblick 06.04. bis 12.04.2018 - Wieken-Verlag Autorenservice
Lila
Mir ist es sehr wichtig, dass die Geschichte authentisch ist. Natürlich werd ich nicht den warnenden Finger ausstrecken, wenn es die Straße im Stadtteil nicht gibt, aber ich reagiere regelrecht allergisch, wenn medizinische und wissenschaftliche Sachverhalte vollkommen falsch dargestellt werden, nur um die Geschichte etwas spannender zu machen. Das bedeutet für mich manchmal auch, dass ich wissenschaftliche Veröffentlichungen statt Wikipedia und populärwissenschaftliche Artikel. Wenn ich nicht weiter weiß, frage ich Leute, die in diesem Bereich arbeiten oder gar Experte sind. Man KANN nicht alles wissen, aber ich finde es sehr schade, wenn man hunderte Stunden an seinem Roman sitzt und gerade bei solchen Details voll ins Fettnäppchen tritt. Wenn man nicht so gerne recherchiert, sollte man keine Historienromane, Krimis oder Sci-Fi schreiben.
Sarah
Glaubhaftigkeit kann den Leser einfach in eine Geschichte ziehen und ihn beim Lesen überzeugen. Kleine Fehler verzeihe ich schon mal, genauso wie erfundene Straßen oder in Fantasy Romanen auch ein erfundenes Gift oder Magie, aber es muss in sich stimmig und eben glaubhaft bleiben. Wenn ich das Gefühl habe, dass der Autor sich keine Gedanken gemacht hat und sich nicht für die Fakten interessiert, verliert er mich sehr schnell. 🙂 Eine Freundin von mir kann aus diesem Grund keine Ärzte-Serien gucken 😉 Sie ist Chirurgin.
Milch
Es sollte mit der Verantwortung und fiktiven Geschichten heißen.
Milch
Man muss nicht selbst morden, um über ein Mord zu schreiben. Ich stehe den Authentizitätsfimmel skeptisch gegenüber. Es geht ja nicht darum, wie man selbst die Welt wahrnimmt, sondern die Figur. Das muss nicht identisch sein.
Es ist wichtig zu wissen, wie und warum eine Figur denkt. Manchmal braucht man dafür Monate, die man sich auch nehmen sollte. Man kann sich um ein Projekt kümmern, was nicht so rechercheintensiv ist.
Ich finde, man sollte Verantwortung nicht so leichtfertig umgehen. Menschen orientieren sich an fiktiven Geschichte, da sollte man sich überlegen, was man ihnen auftischt und vor allen Dingen wie. Manche Fehler sind wirklich ärgerlich, weil man spürt, dass der Autor Wichtiges nicht verstanden hat.
Problem sind dabei nicht die Dinosaurier bei der Familie Feuerstein, ärgerlich dagegen ist der „Wir nutzen nur 10 Prozent unserer Gehirnmasse“-Unsinn.
Sarah
Ich würde sogar dazu raten, nicht selbst zu morden 😉 Für mich macht es die Mischung. Eine gute Recherche kann ein Thema vertiefen. Gleichzeitig kann kaum jemand alles Details eines Themas in- und auswendig kennen, aber es hilft natürlich schon, wenn man genau weiß, wie der Mord tatsächlich verübt werden könnte. Das wird in Krimis oft sehr viel leichter dargestellt, als es tatsächlich ist. Die andere Seite ist natürlich die Zeit, die man braucht, um mit Einfühlungsvermögen und Vorstellungskraft in ein Thema einzutauchen. Also z.B. die Figuren wirklich gut zu kennen und das Thema gedanklich durchdrungen zu haben. Im Idealfall hat man beides 🙂
Milch
Es bezog sich bei meiner Kritik darauf, alles selbst einmal auszuprobieren. Wenn ich auf XY bei etwas achte, muss es Figur X nicht ebenfalls tun, weil es ja keine Autobiografie sein soll. Ich finde Buchrecherche deshalb wichtiger, dazu können auch Selbsterlebnisberichte gehören.